Mehr als 120 Menschen sind bei der Stadion-Katastrophe von Malang gestorben. Gewalt ist im indonesischen Fußball allgegenwärtig. Ein Roadtrip durchs Kriegsgebiet.
Diese Reportage erschien erstmals in 11FREUNDE #194. Das Heft ist hier bei uns im Shop erhältlich.
Bei Kilometer 243 sind sie da. Kurz nach Mitternacht, auf dem endlosen Asian Highway 2, huschen sie über die Felder. In der Dunkelheit erkennt man ihre Silhouetten. Wie sie ihre Munition zusammensuchen. Wie sie sich in den Gräben hinter der Leitplanke verschanzen. Kleine Krieger, wilde Kerle, die meisten kaum älter als 15, 16 Jahre. Sie sind Fans des indonesischen Erstligisten Persib Bandung, und diese Gegend, West-Java, ist ihr Revier.
Der Fahrer des Persija-Busses beschleunigt, aber es ist zu spät. Ein Stein fliegt und dann noch einer. Treffer. Scherben auf den Sitzkissen, Blut auf den Wangen eines Jungen. „Anhalten!“, ruft einer, und der Wagen kommt mitten auf der Straße zum Stehen. In der Hitze der Nacht rasen die Autos vorbei, grelle Lichthupen über dem Asphalt, irritierte Blicke hinter den Fenstern, während sich die Anhänger von Persija Jakarta auf die Gegenoffensive vorbereiten. Keine Gnade, keine Furcht, aber hati-hati, immer auf der Hut! Sie stürmen aus dem Bus. Bewaffnen sich mit herumliegenden Stöcken. Schwingen Bambusrohre wie Samuraischwerter. Schießen Leuchtraketen in den javanischen Himmel, um die Peripherie zu erhellen. „Da hinten! Das sind sie!“ In der Ferne sieht man noch die Umrisse der Persib-Fans, unerschrockene Gesichter, triumphierendes Lachen. Sie sind schon viel zu weit weg. „Feige Hunde!“
„Setzt euch nicht ans Fenster. Es geht durch West-Java, Feindesland. Manchmal wird man nett begrüßt.“
Drei Tage zuvor, am 30. Oktober 2017, hatten die Polizei und der Fußballverband entschieden, Persija Jakartas Heimspiel gegen Persib Bandung auf einen Freitagnachmittag ins 600 Kilometer entfernte Surakarta zu verlegen. Aus Sicherheitsgründen, hieß es. Denn bei diesem Spiel der verhassten Rivalen, das einige Old Indonesia Derby und andere den Clasico nennen, kommt es regelmäßig zu Ausschreitungen. Aber es war naiv zu glauben, diese Maßnahme würde die Situation beruhigen. Und vielleicht war es auch von uns ein wenig arglos, die Fans auf diesem Roadtrip zu begleiten. 18 Stunden auf der Autobahn. 18 Stunden in einem Bus mit 59 Plätzen, in dem nun etwa 75 aufgekratzte Persija-Ultras übereinander stehen, sitzen und liegen wie Tetrissteine. 18 Stunden für den großen Triumph, Highway to Heaven, aber erst mal geht’s durch die Hölle.
Der Kontaktmann, auch ein Junge aus der Fanszene, hatte vor der Abfahrt eine SMS geschrieben: „Setzt euch nicht ans Fenster!“ Und auf Nachfrage: „Es geht durch West-Java, Feindesland. Manchmal wird man nett begrüßt.“ Dahinter ein Smiley. Mit dem Flugzeug hätte man für die Strecke Jakarta – Surakarta eine Stunde benötigt; die sichere Alternative, einerseits. Aber kann man den Wahnsinn des indonesischen Fußballs beschreiben, wenn man ihm nicht wenigstens einmal ins Auge schaut?
Diese Geschichte handelt von einer weiten Reise und einer innigen Liebe – aber sie hat kein Happy End. Sie erzählt von Treue, Ehre, Stolz und dem ganzen pathetischen Rattenschwanz. Es geht um junge Menschen, die für die Farben ihres Vereins alles tun würden, sogar sterben. Und das ist keine Floskel, sondern bittere Realität, denn seit 1995 sind bei Fußballspielen in Indonesien 65 Fans gestorben. Aber es geht auch um korrupte Funktionäre und irre Klubbesitzer. Um einen Fußball, der seit Jahren auf der Intensivstation liegt und eigentlich nur noch künstlich am Leben gehalten wird. Sie spielt in einem Land, das die Schriftstellerin Elizabeth Pisani mal eine „unglaubliche“ Nation genannt hat, und vermutlich gibt es kein Adjektiv, das Indonesien besser beschreibt.
Am Anfang stehen immer diese Superlative: 17 504 Inseln, 360 Ethnien, 719 Sprachen. Nirgendwo auf der Welt leben mehr Muslime in einem Land als hier. Die Nation liegt auf dem vierten Platz der bevölkerungsreichsten Staaten, Groß-Jakarta ist mit 30 Millionen Einwohnern nach Tokio die zweitgrößte Agglomeration der Welt. Dann noch all diese Bilder aus der blutigen Vergangenheit, die fast jeder hier in sich trägt. Die drei Jahrzehnte währende Diktatur Suhartos, die Massaker der sechziger Jahre, die Eroberung Ost-Timors in den Siebzigern. Am Ende immer die Frage: Was ist Indonesien heute?
„Es ist trotz seiner Größe das unsichtbarste Land der Welt“, hat der berühmte indonesische Unternehmer John Riady gesagt. Denn was weiß man wirklich? Der Westen kennt es als Name auf einem Lonely-Planet-Reiseführer, Backpacking-Folklore, Traumstrandidylle, Bali, Lombok, die Gili Inseln. Die Nasi-Goreng-Garküchen in Surabaya, die Wayang-Schattenspieler in Malang, die Bajaj-Fahrer in Jakarta, „Mister, Mister, Taxi?“ Und zwischendurch liest man immer mal wieder Nachrichten wie diese aus dem November 2015: „Verurteilte Drogendealer könnten in Indonesien auf einer Insel landen, die von aggressiven Krokodilen statt von Gefängniswärtern bewacht wird.“ Unglaublich? „This is Indonesia!“, sagen die Einheimischen.